Herausgegeben durch den

Transformation auch in der Bürgerbeteiligung

Oder: Wenn alle mitreden – und keiner mehr zuhört

In seiner Glosse „Der Querulant“ nimmt Martin Müller regelmäßig Merkwürdigkeiten unserer Beteiligungspraxis aufs Korn.

In unserer digital vernetzten Welt ist es kaum noch möglich, einen Kaffee zu trinken, ohne dass jemand online eine Petition startet, eine Bürgerinitiative ins Leben ruft oder eine Hashtag-Kampagne lostritt. Früher war das eine Angelegenheit für Politiker, die sich im Gemeinderat in den vielen Sitzungen ihr jeweiliges Sitzungsgeld regelrecht im Dauersitzen verdient haben: „Jetzt sagt der nochmal dasselbe, obwohl all´ die konkurrierenden Fraktionen das eben schon in ihrer epischen Langform getan haben…“

Und anschließend hat man dann das befreundete Büro genommen, den Handwerker, den Architekten, die Fachfrau, die oder den man schon kennt oder nach der Ausschreibung das absolut günstigste Angebot, das Beste, das Bekannte, das Übliche, das von nebenan…, „was, den gibt es gar nicht mehr…, der war doch immer so nett …“

Und heute?

Da wird eine Plattform eingerichtet, auf der Bürger Vorschläge machen, Bilder hochladen und über die Sitzhöhe einer Sitzgelegenheit abstimmen.

Das erste Ergebnis?

Ein Vorschlags-Feuerwerk, so bunt und chaotisch wie ein Kindergeburtstag nach zu viel Zucker-Einsatz. Manche wollen eine Bank mit eingebautem WLAN, andere eine, die auch als Yoga-Station taugt. Und wieder andere fordern eine Bank, die gleichzeitig als Rutschbahn dient – für den Fall, dass die Kinder mal wieder keine Lust auf den Spielplatz haben.

Was passiert, wenn die Bürger mehr mitreden als die Politiker?

Richtig:

Es wird laut, manchmal auch ziemlich laut. Diskussionen, so hitzig wie das wichtigste Fußballspiel der Saison, bei dem der Schiedsrichter die Nerven verliert und alle plötzlich Experten für alles sind. Wir kennen das: 82 Millionen Bundestrainer geben sich vor dem Bildschirm die Ehre, … oder Blöße.

Manchmal fühlt es sich an, als ob jeder eine Meinung hat – nur keiner wirklich zuhört. Statt konstruktiver Debatte gibt’s dann eine Flut von Kommentaren, die so vielfältig sind wie die Geschmäcker bei einem All-you-can-eat-Buffet. Und was macht man, wenn die Bürger so viel mitreden, dass die Politik und erst recht die Verwaltung kaum noch hinterherkommt?

Man könnte meinen, es ist ein digitaler Kaffeeklatsch, bei dem alle ihre Meinung loswerden – aber kaum jemand wirklich zuhört. Meinungen, mit denen man kaum was anfangen kann.

Das zweite, noch viel bessere Ergebnis?

Ein Durcheinander aus Vorschlägen, Forderungen und Meinungen, bei dem man kaum noch durchblickt. Gesellschaftlich gesehen ist das eine Revolution, die vor allem eines zeigt:

Wir sind auf dem Weg, eine Gesellschaft zu werden, in der jeder mitreden will und darf, im verborgenen Chatraum oder bei den berühmt berüchtigten „Zukunftswerkstätten des guten Gewissens“ – aber kaum noch jemand weiß, was eigentlich noch zählt.

Die Algorithmen spiegeln mir eh´ die Welt vor, wie sie mir gefällt … der Rest interessiert nicht.

Demokratie 2.0?

Eher Demokratie im Dauer-Update, bei dem die Nutzer ständig neue Features fordern, aber kaum noch auf die Alten hören. Und eine echte, faktenbasierte Recherche, was ist das?

Und das Beste?

Am Ende bleibt nur die Frage: Wird das alles besser? Oder ist das nur ein weiterer Trend, bei dem wir alle mitreden – und keiner mehr wirklich entscheidet?

Vielleicht ist es ja beides.

Hauptsache, wir lachen noch, wenn die nächste Bürgerinitiative eine Bank fünf Meter hoch baut – für den Fall, dass jemand mal wieder eine bessere Idee hat.

Oder: Uns vergeht das Lachen noch, weil ganz andere Kräfte das Land mit billigen populistischen Parolen für sich gewinnen. Denn diese Kräfte wissen ganz genau, was sie wollen und ich weiß, dass ich das nicht will.

Wir bleiben wachsam und wehren uns gegen solche Anfänge. Gute Beteiligung gehört dazu.

Martin Müller ist Geschäftsführender Gesellschafter der Lebenswerke GmbH – Social Profit Agentur und stellv. Vorsitzender des Fachverbands Bürgerbeteiligung
Diesen Beitrag teilen:

Das Magazin zur politischen Teilhabe

Gerne schicken wir eine kurze Email, sobald eine neue Ausgabe erscheint:

Weitere Artikel aus unserem Magazin

Best Practice

Jugend-Kultur-Schmiede ERZ

Die Beteiligung junger Menschen ist ein zentraler Baustein für eine lebendige Demokratie. Doch gerade im ländlichen Raum fehlen oft Strukturen, um Jugendpartizipation nachhaltig zu verankern.

Artikel lesen
Best Practice

Wie aus Ideen Zukunft wird

Stadtentwicklung ist ein bekanntes Thema in der Beteiligung. Bekannt sind auch die Herausforderungen, die solche Prozesse bezwingen müssen. Wie können möglichst viele Bürger*innen informiert und beteiligt werden? Wie können innovative Ideen entwickelt werden? Und wie werden aus Ideen Visionen? Christina Schlottbom gibt einen spannenden Einblick in das Projekt „Zukunft_Garrel“.

Artikel lesen
Schwerpunkt

Demokratie ohne Beteiligung?

Unsere Demokratie ist unter Druck geraten. Rechtsextremisten gewinnen an Einfluss, ihre Wahlergebnisseund die von ihnen betriebene Verrohung der Gesellschaft machen Angst. Wie schützen wir unsere Demokratie? Kann Bürgerbeteiligung dabei ein Faktor sein?

Artikel lesen
Kommentar

Bürgerräte im Reliabilitätstest

Bürgerräte erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Häufig stellt sich jedoch die Frage, wie reliabel die Ergebnisse dieser Prozesse sind. Wie zufällig und abhängig von der durchführenden Organisation sind Empfehlungen? Diese Frage stellt auch Timo Rieg in seinem Gastkommentar und kommt zu einer spannenden Forderung.

Artikel lesen
Best Practice

„Schimpfen-Spinnen-Schaffen“

Bürgerbeteiligung braucht einen Rahmen, braucht eine Idee, braucht Kraft, Motivation, braucht Perspektive, braucht Vertrauen und Zutrauen, braucht Haltung. Wie kann das in der heutigen Vielfalt der Herausforderungen unserer Gesellschaft gelingen?

Artikel lesen
Interview

Bürgerbeteiligung in Kehl

Ein lebendiges Miteinander und eine aktive Mitgestaltung – das sind die Leitmotive, die das Gemeinwesen in Kehl prägen. In einem exklusiven Interview gibt Oberbürgermeister Wolfram Britz Einblicke in die Entwicklung und Bedeutung der Bürgerbeteiligung in seiner Stadt. Transparent, offen und innovativ sollen neue Wege der Partizipation beschritten werden, um den Menschen eine Stimme im kommunalen Geschehen zu geben.

Artikel lesen
Best Practice

Andere Meinungen? Aushalten!

Beteiligung geht nur, wenn wir andere Meinungen aushalten. Einfach ist das nicht, aber es gibt Werkzeuge, die helfen können. Das Dialogformat demoSlam lädt dazu ein, sich auf menschlicher Ebene zu begegnen, andere Meinungen zu akzeptieren, ohne ihnen zuzustimmen, gemeinsam zu lachen, aber auch zu weinen.

Artikel lesen
Theorie

Gelingensbedingungen von Partizipation

Partizipation ist die Beteiligung von Individuen, ihre Meinungen in die Planung von Projekten einzubringen, die ihre zukünftige Umgebung gestalten. Doch welche Bedingungen braucht es, damit dies gelingt? Das untersucht Dr. Michael Mörike von der Integrata-Stiftung.

Artikel lesen