Herausgegeben durch den

Alle sollen mitmachen – aber wie?

Erfahrungen aus Neukölln

Inklusiv und möglichst die erreichen, die sonst nicht mitmachen – das ist ein oft erhobener Anspruch an Beteiligungsprozesse. Wie könnte das gelingen? Ein Praxisbeispiel aus Berlin – Neukölln.

In Berlin wurden 2019 die Leitlinien für Bürgerbeteiligung verabschiedet. Diese sollen – ganz grob gesagt – dafür sorgen, dass Beteiligungsprozesse mehr Menschen erreichen als bisher. Der Bezirk Neukölln war in der Umsetzung sehr schnell. Er hat bereits 2020 eigene Leitlinien verabschiedet. Zur Umsetzung dieser Leitlinien wurden verschiedene Instrumente identifiziert. Eines davon ist die Einrichtung einer Anlaufstelle für Bürgerbeteiligung. Der Mitmach-Laden – die Anlaufstelle für Beteiligung in Neukölln wurde dann Anfang 2021 eröffnet. Die Bürgerstiftung Neukölln, Mitglied im Fachverband Bürgerbeteiligung, betreibt diesen Mitmach-Laden seit Beginn an.

Der Mitmach-Laden – was wir machen

Der Mitmach-Laden wirkt durch eine enge Anbindung an das Bezirksamt Neukölln in zwei Richtungen: In die Verwaltung durch Beratung zu Beteiligungsprozessen sowie zur Umsetzung der Leitlinien für Bürgerbeteiligung und in die Zivilgesellschaft durch Beratung, Fortbildungen und Information.

Informieren bedeutet konkret, dass der Mitmach-Laden Informationen zu Planungen des Bezirks, zu Ergebnissen von Beteiligungen und dem Umsetzungsstand von Vorhaben sammelt und auf der berlinweiten Beteiligungsplattform mein.berlin.de veröffentlicht. Zusätzlich informiert er unter anderem über einen Newsletter, Instagram und auf mobilen Sprechstunden. Dabei übersetzt der Mitmach-Laden Verwaltungssprache und Verwaltungshandeln in verständliche Sprache. Im weiteren Sinne wird durch die Arbeit also Verwaltungshandeln transparent gemacht. Denn die Erfahrung aus knapp fünf Jahren Arbeit ist: Oft passiert sehr viel hinter den Verwaltungstüren. Jedoch wird darüber oft gar nicht oder nur sehr umständlich kommuniziert.

Als Schnittstelle zwischen Bürgerschaft und Verwaltung kümmert sich das Team des Mitmach-Ladens auch um Antworten aus der Verwaltung. Zum Beispiel, wenn Bürger*innen Fragen zu Planungen im Bezirk haben. Ein großer Teil der Arbeit des Mitmach-Ladens besteht also aus Informieren und Beraten. Ziel ist es möglichst viele verschiedene Neuköllner*innen anzusprechen – entsprechend dem Neuköllner Fokus auf Leitlinie 5: Viele Verschiedene beteiligen.

In unserer Arbeit hat sich gezeigt: Damit sich Menschen wirklich beteiligen, müssen sie informiert und von einem Vorhaben betroffen sein. Das reicht aber nicht aus. Sie müssen auch ausreichend zeitliche, kulturelle, mentale und sprachliche Ressourcen haben. Ist dies nicht der Fall, braucht es eine besondere Ansprache und Begleitung, um sie für eine Beteiligung zu gewinnen. So hatte der Mitmach-Laden mit den Neuköllner Stadtteilmüttern – Frauen, die nicht erstsprachlich deutsch sprechen – Workshops durchgeführt, um diese auf Beteiligungsmöglichkeiten vorzubereiten. Unter anderem wurde mit den Frauen die Frage geklärt, in welcher Form sie vom Projekt betroffen sind und welche eigenen Interessen sie in eine Beteiligung einbringen könnten.

Aus dieser Begleitung wurde schnell klar: Es braucht mehr Ressourcen, um Gruppen direkt anzusprechen und um sie auf eine Beteiligung vorzubereiten. Es entstand die Idee, ein Anschlussprojekt zu entwickeln, das diese konkrete Ansprache übernimmt. So bewarb sich die Bürgerstiftung auf eine Förderung für ein ESF+-Projekt, ausgeschrieben von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung (LpB), um diesem Bedarf gerecht zu werden.

Das Pilotprojekt „Leicht gemacht“

Dank der Förderung durch den Europäischen Sozialfonds Plus und die LpB konnte das Projekt „Leicht gemacht – Beteiligung für gering literalisierte Erwachsene“ im August 2023 in Neukölln starten. Das Projekt unterstützt in enger Zusammenarbeit mit dem Mitmach-Laden und dem Neuköllner Bezirksamt Beteiligungsprozesse.

Die Aufgabe lautet dabei konkret: Menschen einbeziehen, die von sich aus nicht die Ressourcen haben, sich über mögliche Beteiligungsverfahren zu informieren oder aus unterschiedlichen Gründen demotiviert sind. Der Fokus liegt dabei auf Menschen, die nicht oder kaum lesen und schreiben können – gering literalisierte Erwachsene. Relevant ist diese Gruppe vor allem aus einem Grund: Ihre Größe! Etwa jede*r fünfte Erwachsene kann maximal auf dem Niveau eines Grundschulkindes lesen und schreiben. In der Konsequenz wird lesen und schreiben vermieden, so gut es geht. Hinzu kommt, dass jede*r achte Erwachsene maximal bis zu einem Satz lesen und schreiben kann. Laut der LEO-Studie 2018 sind das 6,2 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren. Anders gesagt: etwa 32 % der Erwachsenen wird über Schriftsprache nicht oder kaum erreicht.

Denken Sie mal an Ihre eigenen Projekte: Wie viel funktioniert über Schriftsprache, Informationsvermittlung über Geschriebenes oder Rückmeldungen in schriftlicher Form? Das Pilotprojekt „Leicht gemacht“ sammelt Ideen, Tipps und Hinweise, wie die Einbindung dieser großen Gruppe möglich ist.

Konkret passiert das über Workshops mit Menschen aus der Zielgruppe. Steht ein Beteiligungsvorhaben an, werden im betroffenen Gebiet Gruppen von Erwachsenen gesucht. Gruppen können sein: Elterncafés, Kurse in denen Erwachsene lesen und schreiben lernen (Grundbildungskurse) oder Freizeittreffs. Die Gruppen werden bei der Beteiligung begleitet und die Beteiligung wird in Workshops vor- und nachbereitet. Durch die Auswertung erhält das Projektteam wertvolles Feedback, wie die Teilnehmenden die Beteiligung erlebt haben. Damit kann das Projektteam Beteiligungsausrichtende gemeinsam mit dem Mitmach-Laden zum Beteiligungsdesign beraten. Auch wenn nicht alle Tipps direkt umgesetzt werden können: Negative Erfahrungen sind in einem Pilotprojekt Gold wert.

So geht es weiter

Die Arbeit der Bürgerstiftung Neukölln zeigt bereits Wirkung: Die Expertise im Bereich der Einbindung von Vielen Verschiedenen wird größer und kann dank der engen Anbindung an das Bezirksamt Neukölln direkt an die Beteiligungsausrichtenden weitergegeben werden. Das Projekt „Leicht gemacht“ ist noch bis Juni 2026 ausgelegt. Das Projektteam freut sich über Austauschanfragen.

Hinweis:

Das Projekt „Leicht gemacht“ wird im Rahmen des Europäischen Sozialfonds Plus aus Mitteln der Europäischen Union und des Landes Berlin gefördert.

Franziska Zeisig leitet seit 2021 zusammen mit Lukas Schulte den „Mitmach-Laden – Raum für Beteiligung in Neukölln“. Der Mitmach-Laden wird von der Bürgerstiftung Neukölln im Auftrag des Bezirksamts Neukölln betrieben. Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Hannah Zacher. Sie leitet seit August 2023 das Projekt „Leicht gemacht – Beteiligung für gering literalisierte Erwachsene“.
Diesen Beitrag teilen:

Das Magazin zur politischen Teilhabe

Hier ein kurzer Text über das kostenlose Magazin, seine Inhalte und den Fachverband Bürbergeteiligung…

Weitere Artikel aus unserem Magazin

Der Querulant

Zeit für eine neue Ära

Bürgerbeteiligung – für einige das Vorzeigeobjekt der Demokratie. Jeder liebt es (oder behauptet das zumindest…), aber keiner weiß so richtig, was er damit letztendlich anfangen soll.

Artikel lesen
Kommentar

Bürgerbeteiligung am Limit

Bürgerbeteiligung erfreut sich wachsender Beliebtheit – immer häufiger werden Beteiligungsprozesse in unterschiedlichen Bereichen durchgeführt. Am Beispiel der Energiewende kommt Jan Schmidbauer zu der Einschätzung, dass Bürgerbeteiligung kein Selbstläufer ist.

Artikel lesen
Lexikon

Deliberation

Der Begriff Deliberation stammt vom lateinischen deliberatio, was so viel wie „Beratschlagung“ oder „Abwägung“ bedeutet. Deliberation beschreibt einen anspruchsvollen den Prozess, in dem Menschen sich auf sachliche und faire Weise austauschen, um eine informierte Entscheidung zu treffen.

Artikel lesen
Schwerpunkt

Demokratie ohne Beteiligung?

Unsere Demokratie ist unter Druck geraten. Rechtsextremisten gewinnen an Einfluss, ihre Wahlergebnisseund die von ihnen betriebene Verrohung der Gesellschaft machen Angst. Wie schützen wir unsere Demokratie? Kann Bürgerbeteiligung dabei ein Faktor sein?

Artikel lesen
Best Practice

Mehr als Methode

In Zeiten zunehmender Polarisierung und verhärteter gesellschaftlicher Konflikte wird es immer seltener, dass sich Bürger*innen mit unterschiedlichen Meinungen als Menschen begegnen. Wie kann unter diesen Bedingungen demokratischer Austausch gelingen? Josef Merk von Mehr Demokratie e.V. berichtet über seine Erfahrungen.

Artikel lesen
Best Practice

Jugend-Kultur-Schmiede ERZ

Die Beteiligung junger Menschen ist ein zentraler Baustein für eine lebendige Demokratie. Doch gerade im ländlichen Raum fehlen oft Strukturen, um Jugendpartizipation nachhaltig zu verankern.

Artikel lesen
Literatur

Die Vertrauensfrage

Demokratie funktioniert nicht ohne Vertrauen. Dabei geht es weniger um das Vertrauen in Regierende und Parteien. Demokratie braucht vor allem unser Vertrauen in das demokratische Design an sich, also die Zuversicht, dass widerstreitende Interessen langfristig ausbalanciert werden können. Und wir brauchen Vertrauen in uns selbst, darauf, etwas bewirken zu können.

Artikel lesen
Best Practice

Alle sollen mitmachen – aber wie?

Inklusiv und möglichst die erreichen, die sonst nicht mitmachen – das ist ein oft erhobener Anspruch an Beteiligungsprozesse. Wie könnte das gelingen? Ein Praxisbeispiel aus Berlin – Neukölln.

Artikel lesen
Interview

Flood the Zone with Love and Kindness

Marina Weisband ist Beteiligungspädagogin, Diplompsychologin und Autorin. Im Interview spricht sie über die Demokratie von heute, die Bedrohung des morgen und die Chancen für übermorgen, sowie über ihre persönlichen Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen und wie gute Beteiligung gelingen kann.

Artikel lesen
Best Practice

Zufall bringt Vielfalt

Mit betterLÄND hat das Umweltministerium Baden-Württemberg einen neuartigen Jugenddialog initiiert. Ziel war es, junge Menschen zu erreichen, die sich bislang kaum an politischen Prozessen beteiligen oder engagieren.

Artikel lesen